Mit der zugelassenen Anklage der Staatsanwaltschaft Hamburg vom 8. April 2019 sind dem Angeklagten zwei Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern gem.. § 176 Abs. 1 StGB (a.F.) sowie vier Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gem.. § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB (a.F.), davon drei Fälle in Tateinheit (§ 52 StGB) mit Vergewaltigung gem.. § 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB (a.F.), zum Nachteil des Zeugen pp. zur Last gelegt worden.
Der Angeklagte ist freigesprochen worden. Er hat sich zu den Tatvorwürfen nicht eingelassen. In Ermangelung sonstiger Beweismittel beruhten die Anklagevorwürfe daher allein auf den Angaben des Zeugen pp., die dieser namentlich im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung am 4. Mai 2018 gemacht hatte. In der Hauptverhandlung konnte ein Tatnachweis allein auf Grundlage der Angaben des Zeugen pp. indes nicht mit der erforderlichen Sicherheit geführt werden.
1. Der Zeuge pp. hat die anklagegegenständlichen Tatvorwürfe in ihren Einzelheiten erstmalig im Rahmen der vorgenannten polizeilichen Vernehmung im Mai 2018 – etwa acht Jahre nach dem in Rede stehenden Tatzeitraum – geschildert. Zuvor hatte er sich lediglich gegenüber seiner Mutter insoweit einmal anvertraut, als er ihr im Jahr 2010, kurze Zeit nach der letzten anklagegegenständlichen Tat, als er ein weiteres Wochenende bei dem Angeklagten verbringen sollte, berichtete, dass er dies nicht wolle, da der Angeklagte ihn „angefasst“ habe. Diesen Vorwurf hat der Zeuge pp. indes weder in diesem Gespräch mit seiner Mutter noch in der Folgezeit zunächst weiter ausgeführt oder konkretisiert. Ab Januar 2017 begab er sich sodann in psychologische Behandlung bei der Psychologin Dr. pp., wofür nach den Angaben des Zeugen pp. (auch) eine depressive .Symptomatik anlassgebend war, unter der er indes schon vor dem anklagegegenständlichen Tatzeitraum gelitten hatte. Im Rahmen der Behandlung fand insbesondere eine intensive tiefenpsychologische Traumatherapie (nach Reddemann) statt. Erst nach über 100 Therapiestunden bei der Psychologin Dr. pp. erstattete der Zeuge pp. am 20. April 2018 schließlich Strafanzeige gegen den Angeklagten und machte im Rahmen der polizeilichen Vernehmung im Mai 2018 umfassende Angaben zu den einzelnen (vermeintlichen) Taten.
2. Vor dem Hintergrund der gegebenen Aussageentstehung und der vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation waren die Angaben des Zeugen besonders kritisch zu würdigen. Die Kammer hat daher ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt, das der Sachverständige pp. in der Hauptverhandlung erstattet hat. Der forensisch erfahrene Sachverständige, dessen Gutachten auf zutreffenden Anknüpfungstatsachen – unter anderem auf den weiteren Angaben des Zeugen pp. im Rahmen der Exploration – fußt und an dessen Fachkunde die Kammer keinerlei Zweifel hat, ist schlüssig und nachvollziehbar zu dem Ergebnis gelangt, dass es nicht auszuschließen ist, dass die Angaben des Zeugen pp. auch anders erklärbar sind als durch einen tatsächlichen Erlebnisbezug.
Zwar bestünden keine Anhaltspunkte für eine intentionale Falschbezichtigung des Angeklagten durch den Zeugen pp. Es sei jedoch insbesondere möglich, dass es sich vorliegend um eine subjektiv für wahr gehaltene, auf einer vermeintlichen Erinnerung basierende Darstellung handelt, deren Inhalt jedoch keine reale Entsprechung hat (sog. „Suggestionshypothese“ als konkrete Ableitung der Nullhypothese). In den Angaben des Zeugen pp. sei insbesondere auffällig, dass dieser häufig zu Erklärungen auf der Metaebene neige. Sein Berichtsstil sei insgesamt wenig beschreibend, sondern – gerade auch bei den tatrelevanten Umständen – fast durchgängig interpretierend. Der Zeuge selbst habe sich zudem immer wieder darauf zurückgezogen, dass er sich „an ziemlich nichts mehr“ erinnere, da er fast alles aus seiner Kindheit „weggeschmissen“ habe oder sich auch nicht erinnern wolle. Andererseits habe er bekundet, er würde sich gerne genauer erinnern können, jedoch sei er, so der Sachverständige, jeweils selbst unsicher über die Quelle seiner teilweise vorhandenen Erinnerungen. Der Sachverständige hat überdies nachvollziehbar dargelegt, dass durch entsprechende Techniken – insbesondere im Rahmen einer Traumatherapie der hier angewandten Art (nach Reddemann) – solche Vorstellungen und insbesondere lebhafte mentale Vorstellungsbilder getriggert werden könnten. Die Vorgehensweise dieser Traumatherapie bestehe darin, Fähigkeiten zur Selbstberuhigung und -tröstung zu erwerben, indem vorhandene traumatische Erinnerungen kognitiv durchgearbeitet würden. Der Zeuge pp. berichtete selbst, eigentlich zu wenig zu erinnern, um einen „sicheren Fall“ zu begründen, da er zu viel verdrängt habe. Ziel der Traumatherapie sei es gewesen, die im damaligen Zeitpunkt noch vorhandenen Erinnerungen, die der Zeuge als „Blitze“ beschreibt, durch ein „Nachgraben“ zu erweitern und – so der Sachverständige – „wie ein Puzzle“ in einen Zusammenhang zu bringen. Hierdurch solle dem Patienten Verständlichkeit und Sinngebung vermittelt werden, was therapeutisch durchaus erstrebenswert sei, jedoch eine erhebliche suggestive Wirkung für den Patienten entfalte. Vor dem Hintergrund dieses Therapieansatzes sei es mit großer Wahrscheinlichkeit zu nachträglichen Verzerrungen seiner Vorstellungen aber auch zu gänzlichen Neubewertungen vorliegender Erinnerungen gekommen. Dies habe sich auch im Rahmen der Exploration gezeigt, indem der Zeuge je versucht habe, Erinnerungslücken in der Sache mithilfe der Erinnerungen an die therapeutischen Prozesse zu füllen, anstatt sie bestehen zu lassen.
Vor dem Hintergrund der Aussageentwicklung und namentlich der erheblichen Erweiterung der ursprünglichen Angaben des Zeugen – er sei „angefasst“ worden – (erst) im Nachgang zu der stattgefundenen Traumatherapie, könne nach alledem nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den nunmehr geschilderten Begebenheiten um Pseudoerinnerungen handelt, die durch die suggestiven Einflüsse der Traumatherapie induziert worden sind. Die aufgestellte Suggestionshypothese könne mithin nicht zurückgewiesen werden. Schon methodisch sei dies – aufgrund der von dem Patienten nicht zu unterscheidenden Pseudoerinnerungen und Erinnerungen an tatsächliche Begebenheiten – insbesondere durch eine merkmalsorientierte Inhaltsanalyse der Angaben des Zeugen pp. nicht möglich, wobei der Sachverständige ungeachtet dessen weiter überzeugend ausgeführt hat, dass und inwiefern die Aussagequalität ohnehin nicht besonders hoch sei: Die Gesamtaussage falle zwar einigermaßen umfangreich aus, sei jedoch nicht immer logisch konsistent und anschaulich, oft aber schemakonsistent und wenig detailliert. Auffällig sei zudem, dass der Zeuge pp. häufig nur aus der Perspektive der „Draufsicht“, mit zahlreichen interpretatorischen Erklärungen berichtet habe.
Die Kammer schließt sich den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen pp. nach eigener Würdigung an und erachtet die Angaben des Zeugen als nicht hinreichend belastbar, um auf diese eine Verurteilung des Angeklagten zu stützen. Der Angeklagte war mithin er im Ergebnis freizusprechen.
Quelle: Burhoff, Newsletter 9/2023 zu Landgericht Hamburg 606 KLs 9/19
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