Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat am 12. Juni 2017 beschlossen
(GSSt 2/17; Veröffentlichung im September 2017):
Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.
Der Große Senat für Strafsachen hat die Vorlegungsfrage in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Sinne beantwortet und wir folgt (Auszugsweise) begründet.
- 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB ist Teil des die Verfolgungsverjährung betreffenden gesetzlichen Regelungsgefüges. Dieses knüpft zwar wie der Strafzumessungsgesichtspunkt
zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil an den seit der Begehung der Straftat vergangenen Zeitraum an. Die Verjährungsvorschriften begründen indes keine Maßstäbe für eine angemessene staatliche Sanktion für eine begangene Straftat; sie regeln vielmehr – unabhängig davon, welchen
Sinn und Zweck man der Verjährung im Einzelnen beimisst (vgl. hierzu
etwa BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1969 – 2 BvL 15, 23/68, BVerfGE 25,
269, 293 ff.; Asholt, Verjährung im Strafrecht, 2016, S. 90 ff.; Hörnle in Festschrift
Beulke, 2015, S. 115 ff.; Schiemann, NStZ 2016, 336) – die Verfolgbarkeit
der Tat und lassen deren Strafbarkeit bzw. deren Unrecht und die Schuld
des Täters unberührt (BVerfG, Beschlüsse vom 26. Februar 1969 – 2 BvL 15,
23/68, BVerfGE 25, 269, 287, 294; vom 31. Januar 2000 – 2 BvR 104/00, NStZ
2000, 251). Nach Ablauf der Verjährungsfrist ist die Ahndung der Tat und die
Anordnung von Maßnahmen nicht mehr möglich (§ 78 Abs. 1 Satz 1 StGB).
Das Rechtsinstitut der Verjährung soll dem Rechtsfrieden dienen und einer etwaigen
Untätigkeit der Behörden in jedem Abschnitt des Verfahrens entgegenwirken
(BGH, Urteil vom 26. Juni 1958 – 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396;
Beschluss vom 23. Januar 1959 – 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.).
Damit betrifft die Verjährung nicht die Strafdrohung an sich, sondern lediglich das
„Ob“ der Verfolgung; ihr Eintritt führt deshalb nach ständiger und einhelliger
Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs nicht zu einer Veränderung
der materiellrechtlichen Lage, sondern zu einem Verfahrenshindernis
(vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. Juni 2005 – 2 StR 122/05, BGHSt 50, 138,139). Ist die Straftat verjährt, so ist der Angeklagte grundsätzlich nicht freizusprechen, sondern das Verfahren einzustellen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2004 – 1 StR 565/03, wistra 2005, 27).
Um die mit der Verjährung verbundenen Ziele zu erreichen, hat der Gesetzgeber
in den §§ 78 ff. StGB ein differenziert ausgestaltetes System normiert, innerhalb dessen die Dauer der Verjährungsfrist im Ausgangspunkt unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles maßgeblich vom Höchstmaß der durch die betreffende Strafvorschrift allgemein angedrohten
Strafe bestimmt wird (vgl. § 78 Abs. 3 StGB). Die diesem Regelungsgefüge zugrunde
liegenden Wertungen sind Ausdruck generalisierender Betrachtungen.
Eine Aussage über das Strafbedürfnis im Einzelfall treffen die Verjährungsvorschriften
nicht. Für sie ist ohne Belang, ob mit Blick auf die Strafzumessungsmaximen
Schuld und Spezialprävention eine staatliche Reaktion auf die Begehung
einer Straftat in Form einer Sanktionierung des Täters (noch) notwendig
und gegebenenfalls welche angemessen erscheint. Umgekehrt beeinflussen
die für die Strafzumessung maßgebenden Aspekte den Eintritt der Verfolgungsverjährung
nicht. Der Zweck der verjährungsrechtlichen Regelungen besteht
nicht darin, einer Verminderung des Gewichts von Strafzumessungsgründen
Rechnung zu tragen. Deshalb führt etwa ein aus welchem Grund auch immer
entfallenes oder geringeres Strafbedürfnis nicht zum vorzeitigen Eintritt der
Verjährung.
Folgerichtig hat die Rechtsprechung die Länge der Verjährungsfrist im
Rahmen der Strafzumessung regelmäßig nur dafür herangezogen, um im Einzelfall
die Dauer des seit der Tat vergangenen Zeitraumes bzw. das Gewicht
des Tatunrechts näher zu verdeutlichen, ohne eine darüber hinausgehende
innere Verknüpfung – etwa zu § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB – herzustellen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Januar 1992 – 3 StR 440/91, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung
6; vom 26. Juli 1994 – 5 StR 113/94, StV 1995, 130; vom 7. Juni 2011 – 4 StR 643/10, StV 2011, 603, 607; insoweit unklar BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 2 BvR 750, 752 und 761/06, NStZ 2006, 680, 682; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 12. August 2015 – 2 BvR 2646/13, juris
Rn. 30).
Somit steht das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer
noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Strafzumessung einzustellen
ist, mit der Länge der nach abstrakt-generellen Regelungen vorgegebenen Verjährungsfrist
in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Gründe dafür, von diesem
allgemein für das Verhältnis zwischen Strafzumessung auf der einen und
Verjährung auf der anderen Seite geltenden Grundsatz für die Fälle des sexuellen
Missbrauchs von Kindern abzuweichen und dem zeitlichen Abstand zwischen
Tat und Urteil für diese Deliktsgruppe generell ein geringeres Gewicht
zuzumessen, bestehen nicht.
Nach diesen Maßgaben gewinnt das Zeitmoment aufgrund der verminderten
Notwendigkeit, durch die Verhängung der Strafe spezialpräventiv auf
den Angeklagten einzuwirken, etwa dann an Bedeutung, wenn der Täter sich in
der Zwischenzeit nicht weiter strafbar gemacht hat. Das Gewicht des langen
Abstandes zwischen Tat und Urteil kann aber auch durch andere Umstände,
darunter solchen, die im Zusammenhang mit § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB relevant
sind, beeinflusst werden. So war wie dargelegt vor allem der mögliche Einfluss,
den der Täter auf das Opfer nimmt, um dieses zu veranlassen, die Tat nicht zu
offenbaren, für den Gesetzgeber Grund für die Schaffung der genannten Norm.
Dieser Umstand erfüllt zumindest regelmäßig die genannten Voraussetzungen
und kann deshalb als für die Strafzumessung relevantes, die strafmildernde
Wirkung des Zeitablaufs reduzierendes Nachtatverhalten zu Lasten des Angeklagten
gewertet werden. Aber auch ohne ein unmittelbares Einwirken durch
den Täter kann zum Beispiel die mit dem Zeitablauf einhergehende längere
Dauer der psychischen Belastung, denen das Opfer durch eine familiäre
Drucksituation ausgesetzt ist, von Bedeutung sein, sofern der Täter diese Auswirkungen
verschuldet hat.
Eine solche Bewertung kann das Tatgericht systemgerecht und damit
ohne Rekurs auf die Verjährungsregeln freilich nicht bereits allein aufgrund der
Zuordnung der Tat zu einer bestimmten Deliktsgruppe, sondern nur auf der
Grundlage der im konkreten Fall getroffenen Feststellungen nach Maßgabe
aller relevanten Einzelfallumstände vornehmen.
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